Shalom Europa
Die Fassade des Jüdischen Gemeindezentrums Shalom ist in drei Schichten aufgebaut und hat eine Größe von 70 × 30 m. Der äusseren, von Manfred Mayerle entworfenen Glasmembran ist ein abstraktes flächiges Bild eingeätzt, das die gegenüberliegenden Bäume stilisiert. Das horizontale Lineament, das die Ätzung prägt, wird von der zweiten Schicht, den Horizontal-Lamellen aufgenommen, es entsteht ein lebendiges Spiel von Licht und Schatten, wobei der Innenraum von aussen nicht einsehbar ist.
Ausführung: geätztes Glas
Entstehungszeit |
2005 - 2006 |
Gebäudetyp |
Öffentliches Gebäude |
Arbeit |
Glasmembran über die gesamte Fassade |
Projekt |
Direktauftrag |
Status |
realisiert |
Bauherr |
Jüdisches Gemeindezentrum Shalom Würzburg |
Architekt |
Grellmann, Kriebel, Teichmann, Würzburg |
Zustand |
existiert |
Adresse |
Valentin-Becker-Straße 11, 97072 Würzburg |
Bibliographie |
Werkbuch, Architekturinterpretationen 2014 - 1960, Atelier Manfred Mayerle |
- Fotocredits:
- Architekten
- ,
Gottfried Knapp
Eine Membran aus Glas
Manfred Mayerles Kunstobjekt für das Jüdische Gemeindezentrum Shalom Europa in Würzburg
Als die nach dem Krieg wieder gegründete Jüdische Gemeinde in Würzburg in den sechziger Jahren einen Bauplatz für ihre Synagoge und für die dazugehörenden Gemeinschaftsräume suchte, entschied sie sich für ein eher versteckt gelegenes Hinterhofgrundstück außerhalb der Altstadt, im Rücken der Residenz, im stillen Wohngebiet zwischen Altstadtring und Hochbahntrasse, direkt dort, wo die Valentin-Becker-Straße in die Bahnunterführung mündet. Von diesem Standort aus, der durch seine Randlage einen gewissen psychologischen Schutz bot, begann sich die langsam wachsende Gemeinde allmählich in die Stadt und in die Öffentlichkeit hinein zu orientieren. Doch es fehlten Räume, um größere Veranstaltungen kultureller Art zu organisieren, Gemeindefeste zu feiern oder gar ein Museum einzurichten für die in der Barockzeit vermauerten, bei Abrissarbeiten wiederentdeckten wertvollen jüdischen Grabsteine aus dem Mittelalter.
Als nach der Wende in den ehemaligen Ostblockländern die Jüdische Gemeinde in Würzburg innerhalb weniger Jahre auf ein Mehrfaches ihrer ursprünglichen Größe anwuchs, entschloss man sich darum zu einem umfangreichen Erweiterungs- bau auf dem Stammgelände. Der Auftrag für dieses Gemeindezentrum, das den Namen “Shalom Europa” tragen sollte, ging an das Würzburger Architekturbüro Gerhard Grellmann, Rainer Kriebel und Christian Teichmann, das sich mit einer vergleichbaren Aufgabe für den Mehrzweckbau empfohlen hatte.
Die Architekten verteilten die unterschiedlichen Funktionen auf drei Baukörper, die zusammen einen U-förmigen Hof vor der bestehenden Synagoge bilden. Im langen rechten Seitenflügel, der den Lärm von der Bahntrasse abschirmt, ist die Verwaltung untergebracht. Der linke Flügel ist dem Leben in der Gemeinschaft gewidmet; seine Eingangshalle dient zu- sätzlich als Foyer für das Jüdische Museum, das in den vom Hof her natürlich belichteten Räumen des Untergeschosses eingerichtet ist.
Verbunden sind die beiden in die Tiefe des Grunstücks führenden Seitenflügel durch den Querbau vorne an der Valentin- Becker-Straße, der die Fluchtlinie des Quartiers aufnimmt, das Gemeindezentrum und den Hof also abschirmt vor der Öf- fentlichkeit, aber mit seiner Fassade auch die Verbindung herstellt zur Stadt. Um diesen Querriegel, der im Erd- und Untergeschoss das öffentlich zugängliche Jüdische Museum, darüber den zwei Geschosse hohen Konzert- und Vortrags- saal und im obersten Geschoss das Jüdische Dokumentationszentrum der Stadt Würzburg enthält, psychologisch mit dem Leben der Stadt zu verbinden, aber gleichzeitig vor neugierigen Gaffern und vor den störenden Zufälligkeiten des Straßenverkehrs zu schützen, setzten die Architekten einen künstlerisch gestalteten Glasschirm als prägendes Fassaden- element vor die durchgehende Fensterwand des David-Schuster-Saals. Diese halbtransparent geätzte Glasscheibe sollte mit ihren matten Partien zusätzlich als Lichtschutz fungieren und mit ihrem transluzenten graphischen Muster nach außen wie nach innen vermittelnd wirken, also die beiden getrennten Bereiche optisch miteinander verbinden.
Nach den ersten gestalterischen Entwürfen – die ursprünglich vorgesehenen Schriftbilder wurden verworfen, weil sie sich nach außen spiegelverkehrt dargeboten hätten – bekam der Münchner Maler und Graphiker Manfred Mayerle, der vielen öffentlichen Räumen in Süddeutschland mit elementar reduzierten monochromen Farbelementen ein charakte- ristisches Gesicht gegeben hat, den Auftrag für die Gestaltung der transluzenten Wand.
Mayerle näherte sich der ungewöhnlichen Aufgabe nicht von seiner abstrakten Flächenmalerei aus, sondern vom bild- nerischen Ansatz seiner graphischen Arbeiten her. So wie er in seinen subtilen Federzeichnungen horizontale Striche in gleichbleibenden Abständen wie Notenlinien übereinandersetzt und in schönen Rhytmen mit Zäsuren versieht, so setzte er in seinen ersten Entwürfen einheitlich breite horizontale Streifen, deren Verlauf graphisch lebendig rhytmisiert war, als Parallelen übereinander. Die Breite der einzuätzenden Querstreifen war so bemessen, dass die geätzten und darum milchig matten, also nicht mehr transparenten Partien auf den 16 Millimeter dicken Glasplatten wie Lamellen auch schräg einfallende Sonnenstrahlen am Eindringen in die dahinterliegende Raumschicht hinderten. Die Helligkeit des Tages aber konnte fast ungehindert durch die beiden hintereinandergeschalteten Glaswände ins Innere des Gebäudes dringen.
Bei der näheren Beschäftigung mit den spezifischen Eigenheiten des Ortes wandelte Mayerle das abstrakt-graphische Li- neament seines ersten Entwurfs enscheidend ab. Es dürften wohl die stattlichen Bäume auf der Straßenseite gegenüber gewesen sein, die ihn zu der Umplanung anregten; Sie grüßten durch das imaginierte graphische Gitter seiner Glaswand herein und machten mit dem entscheidenden Vertikalismus ihrer Stämme und mit der Vielfalt ihrer natürlich gewach- senen Formen der horizontalen Ordnung auf vitale Weise Konkurrenz.
Mayerle erkannte die Möglichkeiten dieses Kontrastes und legte im Atelier scherenschnittartig stilisierte Umrisse von Bäumen und Pflanzenstängeln als organisch bewegte Schicht über die pure Geometrie seiner Parallelstreifen. In einem Modellversuch im Maßstab 1:1 setzte er dann mit Schablonen die endgültige Komposition aus organischen und geometrischen Formen zusammen, nach deren Muster dann im Glaswerk die transparenten Einzelplatten geätzt, also mit der milchglasartigen Binnenzeichnung versehen wurden.
So entstand jenes gläserne Riesen-Dia, das auf jede meteorologische Nuance subtil reagiert und jeden Lichtwechsel nach außen wie nach innen mit überraschenden Wendungen beantwortet. An hellen Tagen, wenn die Sonne direkt auf die geätzten Formen scheint und sie fast plastisch lebendig werden lässt, kann man sich drinnen im Saal, zumal wenn sich zwischen den geätzten mattgrauen Naturformen in den Querschlitzen in der Glaswand die Umrisse der draußen stehenden Bäume bewegen, wie in einem graphisch geschickt stilisierten Wald fühlen. Bei trübem Wetter nehmen sich die geätzten Figurationen zurück, sie gehen dann fast auf in der Farbe der Glasplatten, sind nur noch als feine Schemen, quasi als graphische Andeutungen präsent. Und wenn Regen über die Glaswand perlt, geraten die Formen sogar leicht in Bewegung, die Muster verlieren dann ihre festen Konturen, ja sie bekommen eine impressionistische Leichtigkeit, scheinen für kurze Zeit organische Formen anzunehmen.
Interessant ist auch das Umschlagen aus der Negativ- in die Positiv-Wirkung, das sich je nach Helligkeit des Hintergrunds bei den geätzten Formen feststellen lässt. Dort, wo die stilisierten Baumstämme und Pflanzenumrisse vor dunklem Hintergrund stehen, also etwa vor den gegenüber im Schatten liegenden Häusern, heben sich die geätzten matten Partien hell von den transparenten und darum dunkel hinterlegten Partien ab. Die Zeichnung ergeht sich hier also quasi in einer einzigen Weißhöhung, oder, um in den Kategorien der Lichtbildnerei zu bleiben, sie tritt als Negativ auf. Dort aber, wo der Hintergrund hell ist, also in den oberen Partien des Glasbilds, wo der Tageshimmel den Hintergrund bildet, schaltet die geätzte Binnenzeichnung ins Positiv um, sie hebt sich als blassgrauer Umriss von der dahinterliegenden Helligkeit ab.
Doch nie drängt sich das Geschehen auf dem Glasschirm den Menschen, die im Innern zu tun haben, lästig auf. Das Glasbild bleibt diskret, es erschließt sich erst dem suchenden Auge. Wer im David-Schuster-Saal einen Vortrag oder ein Konzert hört, der kann, wenn er will, sich mit den Augen in dem feinen graphischen Netzwerk der Ätzzeichnung ergehen, vom Geschehen im Saal wird er aber nicht wirklich abgelenkt.
Nach außen ist die Wirkung tagsüber sogar noch zurückhaltender. Die zeichnerischen Strukturen werden außen von den Schatten und den Spiegelungen der gegenüberliegenden Bäume überlagert. Doch nachts funktioniert die Dia-Projektion vor allem in diese Richtung. Wenn der Saal erleuchtet ist, schimmert die transluzente Komposition von Mayerle wie ein riesiges Lichtbild vor dem Haus. Bewegt sich oben jemand direkt hinter der Fensterwand, ist seine Bewegung von unten zu verfolgen. Doch im Übrigen bleibt das Geschehen im Saal vor den Blicken verborgen, es wird zu einer Art Verheißung für die Vorbeigehenden.
Das künstlerisch gestaltete Glasschild erfüllt seine diversen Funktionen also auf erfreulich unverkrampfte Weise. Mit seinem jalousienartigen Querlinienmuster und den einbeschriebenen Pflanzenmotiven schirmt es die dahinterliegende Fensterfront weitgehend gegen direkte Sonnenstrahlung ab. Außerdem schützt es den Saal vor Einblicken und vor dem Lärm von außen und verwehrt umgekehrt den Insassen den Totalausblick auf die Banalitäten der Umgebung, fördert also die Konzentration. Das in zwei Richtungen wirkende Kunstobjekt bewährt sich aber vor allem als Kontaktort zwischen Innen und Außen, als Medium der Kommunikation zwischen zwei funktional zwangsläufig strikt getrennten Bereichen.
Das Jüdische Gemeindezentrum “Shalom Europa” schirmt sich mit dieser Lichtmembran gegen die Öffentlichkeit ab und öffnet sich durch sie gleichzeitig in die Stadt hinein. Die zu Recht vielgeschmähte Bezeichnung “Kunst am Bau” wird in der Valentin-Becker-Straße in Würzburg also auf recht eindrucksvolle Weise rehabilitiert und wieder mit Sinn gefüllt. Das Glasbildwerk von Manfred Mayerle gibt dem Neubau des Gemeindezentrums und den Kulturaktivitäten, die es beherbergt, die erhoffte künstlerische Aura. Mehr kann angewandte Kunst nicht leisten.